“Kribbeln” oder Gedanken über das (Nicht-)Radfahren

Um diesen Artikel zu schreiben habe ich vier Anläufe gebraucht. So ist das eben, wenn man wenig Lust hat etwas produktives zu machen. Je mehr Zeit ich habe, desto weniger mache ich daraus.

Dabei habe ich etwas anderes. Dieses Kribbeln in den Beinen. Bei fast allem was ich mache kitzelt es mich. Es ist diese Lust darauf raus zu fahren. Ins Blaue. Ins Grüne. Einfach dem Vorderrad hinterher. Dieses Gefühl, schon viel zu lange nicht mehr auf dem Rad gesessen zu haben. Der Winter ist vorbei und damit auch die Zeit der trockenen Heizungsluft und der waagrechten Freizeitbeschäftigungen. Eigentlich.

Ich bin krank geschrieben und darf nicht raus. Meine Räder und zeitweise auch meine Laune sind darum im Keller. Eine hartnäckige Erkältung will und will sich einfach nicht abschütteln lassen. Wie ein übermächtiger Verfolger, der immer, wenn man versucht sich nach vorne abzusetzen und man sich schon seiner freien Lunge und Sicht erfreut, mit ungebrochener Schonungslosigkeit wieder auftaucht und einen zurückwirft in den Windschatten. Zurück an die Ingwerteekanne und den Inhalator. Zurück zu Sinupret und Wolldecke.

Wie gerne würde ich jetzt dort draußen fahren! Dort wo Taschentücher und Eukalyptus keine Bedeutung haben. So gerne würde ich jetzt all die geplanten Rundfahrten abhaken und endlich mit der Vorbereitung für die kommenden großen Touren beginnen. Die eingetrockneten Muskeln durchschütteln und der Kette ordentlich Zug verpassen. Doch ich darf nicht ich bin krank.

Das ist eine gemeine Sache. Vor allem in den Momenten, wenn die Sonne schon morgens frech durch den Vorhang pickst und beim Blick auf den Himmel weit und breit keine Wolke zu sehen ist. Es richt nach Erde. Die schlimme Kälte ist vorbei. Die Zeit des Rumsitzen auch. Theoretisch.

Was tun wenn nicht Radfahren? Weil ich und meine strenge Hausärztin mir ein striktes Fahrverbot verhängt haben mache ich das was alle Radbegeisterten machen, wenn sie nicht auf dem Sattel sitzen.

Ich erweitere und optimiere meine Ausrüstung. Kurz gesagt: Shopping. Das ist einerseits zwar sehr schön aber auch ein Problem. Immer wenn ich zu viel Zeit habe und diese im Internet verbringe, werden in mir Begehrlichkeiten geweckt von denen ich vorher noch gar nichts wusste. “Oh, was für eine wunderschöne Satteltasche! Wie geil doch so eine Utraleichtmatte wäre. Viele Radhosen/ -Jacken/ -Schuhe /-Trikos braucht man idealerweise? Meine Trinkflaschen sind mittlerweile schon ganz schön durchgerockt, wenn ich mir diese hier so ansehe.”

Genau hier haben wir das Problem: “Wenn ich mir diese hier so ansehe.” Meine Wünsche und meine Unzufriedenheit ist selbstgemacht. Ich will nur das von dem ich weiß. Die Hersteller all dieser schönen Produkte wissen genau, wie sie mich ködern. Sie zeigen mir Bilder von Orten an denen ich eben gerade nicht bin oder Gegenstände, die ich gerade nicht bei mir habe. Klar ich bin ja auch gerade zuhause im Bett.

Wer gerade gute Abenteuer erlebt, der hat kein Bedürfnis nach Abenteuern anderer auf instagram. Noch nie habe ich bei einer Ausfahrt das dringende Bedürfnis gehabt mich unterwegs von Herstellern “inspirieren” zu lassen. Das mache ich nur dann, wenn ich gerade nicht bei meiner Lieblingsfortbewegungsart bin, sondern im Stillstand. Wenn ich auf dem Rad sitze bin ich glücklich. Egal mit welcher Ausrüstung, welchem Trikot oder welcher Satteltasche.

Es ist doch ganz einfach. Radfahren ist ein teures Hobby. Stimmt. Doch es wird zum besonders teuren Hobby, wenn man gerade nicht Rad fährt. Radfahren selbst ist kostenlos.

Doch hier soll nicht nur stumpfe Konsumkritik geäußert werden. Das kann und macht eh jeder. Das ich nicht zum Radfahren komme ist auch deshalb ungünstig, weil ich in 5 Wochen zu meinem ersten Brevet angemeldet bin. Eine Langstreckenfahrt bei der eine bestimmte Strecke (ab 200km) innerhalb eines begrenzten Zeitrahmen ( in dem Fall 13,5 Stunden) gefahren werden soll. Gewinner gibt es keine. Nur dich selbst, dein Rad und dein Glück.

Zwar bin ich schon 200 km am Stück gefahren, doch war das nicht am Ende einer langen Phase des Herumliegens. Kurz: Ich muss fit werden. Zumindest so fit, damit ich die 200 km hinter mich bringe ohne am Ziel Blut zu husten und ohne danach drei Wochen wieder im Bett zu liegen.

Das wäre schlecht. Immerhin geht es in 6 Wochen gleich weiter mit den Abenteuern. Ich werde nämlich den Candy B Graveler mitfahren. Eine lange Selbstversorgerfahrt von Frankfurt nach Berlin entlang der ehemaligen Luftbrücke. Am Donnerstag morgen geht es los und im Laufe des Sonntags sollte ich in Berlin ankommen, denn zumindest mein Zug nach München ist schon gebucht.

Das Wochenende darauf (also in 7 Wochen) findet das zweite Brevet meines Lebens statt. Vermutlich werde ich die 300 km in 20 Stunden bis dahin gut in den Beinen und an den anderen dafür notwendige Stellen haben.

Bis dahin. Richtig. Bis dahin muss ich meine Spinnenbeine noch etwas aufpumpen und meinen Stoffwechsel ein wenig in Schwung bringen. Davor muss ich vor allem noch eines: Gesund werden und das kann man nur schwer beschleunigen.

Die Zeit bis zu meiner Genesung (Ja ich weiß: ich bin nur erkältet und nicht wirklich ernsthaft am Leben bedroht, aber es ist eben eine Männergrippe) überbrücke ich neben Shopping außerdem mit dem Aneignen von Fachwissen und dem Entwickeln von Vorfreude. Ich glaube ich habe mittlerweile jedes Video, jeden Artikel, jeden Bericht und jeden Podcast zu den Themen: Langstrecke, Bikepacking, Rennrad oder Radreisen naja – zumindest zur Kenntnis genommen. Dass ich mir das alles reinziehe wäre gelogen. Vieles ist einfach unglaublich schlecht gemacht. Schlecht, grotesk oder belanglos. Darüber muss auch mal geredet werden. Wo sind nur die schönen Seiten des Internets geblieben?

Nicht nur den Fokus auf den scheinbaren Konsumzwang beim Radfahren kann man kritisieren. Auch eine gewisse Haltung, dem Radfahren gegenüber lässt mich häufig finster auf den Bildschirm blicken.

Manchmal habe ich das Gefühl Radbegeisterte sind geistig nicht ganz auf der Höhe. Dabei vermute ich, dass ich selbst nicht mehr ganz so weit weg von all denen bin, die sich ein bisschen zu sehr über ihr Dasein als Radfahrer identifizieren. Oft verfehlen wir Radliebhaber dabei, worum es doch bei unserer liebsten Fortbewegungsart geht.

Ein paar Beispiele: Reiseberichte zerpflücken aktribisch genau, wann welcher Snack zu sich genommen und welcher Zentimeter des Körpers wann am meisten gezwickt hat. In Facebookgruppen und Onlineforen wird seitenlang darüber diskutiert, welcher Campinglöffel jetzt (“für einen ganz persönlich”) der beste sei, darüber, dass das Übernachten in Hotels an Hochverat am Kodex des Radreisenden grenze und ganz allgemein gerne gezeigt, was man für ein geiler Typ man sei, weil man so und so viele Kilometer bei den und den Bedingungen mit einem so und so langen Dödel gefahren ist.

Das ist ja alles schön und gut. Ich muss mir das ja nicht reinziehen. Jeder darf seine Liebe zum Radfahren ausleben wie er oder sie es am besten findet. Wenn es dazu gehört zu jeder Feierabendrunde ein 40 minütiges Youtubevideo, unterlegt mit schrecklicher Eurodancemusik und gestreckt mit Googlemaps Luftfahrten oder zu jedem gekauften Ersatzschlauch ein ausführliches Review samt unboxing hochzuladen, bitte sehr.

Ich stelle nur immer wieder fest: Vieles von dem, was im Internet zum Thema Radfahren stattfindet, hat meinem Verständnis nach mit dem tatsächlichen Radfahren dort draußen wenig zu tun.

All die Kilometerzählerei auf Strava ist schön und nützlich. Aber nicht der Punkt.
Ein gepflegter und stylischer Reiseblog oder Instagramaccount macht noch keinen Abenteuer. Welchen Radcomputer du benutzt oder ob du einfach darauf los fährst ist nebensächlich in dem Moment wenn du dein kaltes Bier am Ziel öffnest. Alles Material und jede Optimierung deines Fuhrparks sind kein Garant für eine geschmeidige Zeit da draußen. Klar. Mit einem Fahrrad für 150,- € wird jeder mehr fluchen als lächeln, der weiter als zum Badesee fahren will. Doch auch ein 5000 Euro Renner muss mit Muskeln betrieben werden und geht irgendwann irgendwo kaputt.

Ob du im Rapha kit für 400 Euro oder im Lidl-set für 40 Euro auf dem Sattel sitzt ist letztendlich nicht entscheidend darüber, ob du eine schöne Ausfahrt mit magischen Momenten erleben wirst. Beides (und da konnte mir bisslang keiner das Gegenteil beweisen) sind unterm Strich befremdliche und für den Außenstehenden lächerliche Outfits. Auch die coolste Fahrradkleidung ist immer noch Fahrradkleidung und damit per se nicht cool. Das ist leider eine Wahrheit, die auch ich häufig vergesse.

Vielleicht ist das Radfahren von dem ich spreche eine Analogie zum Leben selbst. Anders als das Internet. Radfahren ist das schönste Vorwärtskommen auf der Welt. Radfahren ist wie Fliegen. Radfahren ist Freiheit. Ob mit oder ohne hochauflösender Videodrohne über dir.

Ich merke es selbst. Es wird höchste Zeit, dass ich raus komme. Raus aus dem Internet und raus auf die Straße. Ich halte euch auf dem Laufenden. Bis dahin. Love & a save ride.

2 Gedanken zu „“Kribbeln” oder Gedanken über das (Nicht-)Radfahren

  1. Wunderschön geschrieben. Den Artikel hab ich im Frühjahr schon gut gefunden und eben als Referenz genommen, um Dich als meinen Sieger beim Tob-Fahrradblog zu küren.

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