BB – Berlin Böhmen by bike 2/2

Hier gehts zum erstes Teil

Mittwoch.

Die Müdigkeit war irgendwann stärker als Donnergrollen und Mücken-Attacken und so habe ich dann wohl doch ein paar Fetzen Ruhe finden können. Weniger gerädert als ich erwartet hatte, wache ich auf und packe meine Sachen zusammen. Außerdem koche ich Kaffee. Den brauch ich jetzt. Heute ist viel Kaffee.

Ich brauche auf jeden Fall auch eine neue Isomatte. Die werde ich wahrscheinlich in Leipzig finden. Also los geht es.

Auf dem Weg nach Leipzig komme ich durch Delitzsch. Beim hiesigen Rewe gibt es Frühstück. Es gibt auch Saft und es gibt Buttermilch und … Erstaunlich, welche Gelüste der Körper unterwegs so entwickelt. Ich habe sonst nie Lust auf Buttermilch.

Nach Leipzig geht es auch irgendwie. Das Gewitter hat die Hitze der letzten Tage vertrieben und so ist alles etwas trüber. Mir ist das nicht unrecht, denn geschwitzt habe ich schon genug in den letzten Tagen.

Weiterhin komme ich an sehr vielen Seen vorbei. Der einstige Braunkohleabbau bestimmt das Landschaftsbild vorrangig. Daher leuchtet mir auch ein, warum hier mitten im Nichts ein Kreisverkehr mit nur zwei aktiven Ausfahrten und ein riesiger Parkplatz samt stillgelegter Bushaltestelle zu finden ist. Alles noch aus einer anderen Zeit.

In der Innenstadt von Leipzig ist Matten-Shopping angesagt. Für Sparsamkeit habe ich gerade nichts übrig und so wähle ich das Topmodell. Ich möchte so komfortabel schlafen, wie es mir in einem Biwak möglich ist. Offensichtlich steckt mir die letzte Nacht in den Gliedern. Außerdem erwerbe ich einen vielversprechenden Insektenschutz. Aus Gründen.

Im Leipziger Wildpark, einer weitläufigen Grünanlage mit vielen Gehegen und Käfigen, die aber alle leer zu sein scheinen, kehre ich ein. An einer Hütte esse ich Nudeln. Sie schmecken ein bisschen nach Fertigpackung und sehen auch ein bisschen so aus. Hauptsache Kalorien, denke ich mir.

Am nächsten Braunkohle-See südlich von Leipzig lege ich mich zur Ruhe. Nicht zur ewigen Ruhe, viel mehr zur Mittagsruhe.  Heute geht eh nicht viel. Ich trödle ein bisschen vor mich hin. Putze meine Kette und meine Schaltung sehr gründlich. Wasche meine Haare und schaue in die Landschaft.

Keine Lust zum Ballern heute.

Irgendwann schubse ich mich weiter. Vor mir liegt noch etwas Weg.

Ein paar träge Stunden später sitze ich schon wieder und zwar in einem Industriegebiet vor einer großen Dönerbox. Da kommt mir die Idee, ein bisschen mit dem Zug abzukürzen. Eine tolle Idee. Ich hinterfrage sie in keinem einzigen Moment. Die Gegend hier ist nicht so spannend, dass ich hier dringend bleiben wollen würde. Zusätzlich winkt am Horizont das Erzgebirge. Außerdem ist für heute die Luft raus.

Eine kurze Recherche und ein Blick auf die Karte und meine Planänderungen stehen.

Ich spende mir und meinen Beinen 700 Höhenmeter und 90 Kilometer, indem ich uns ins Erzgebirge in die Stadt Lößnitz transportieren lasse.

Während der Fahrt in der Bahn habe ich viel Zeit, um über meine Entscheidung nachzudenken.

Unter anderen Umständen wäre mir diese Abkürzung einem gefühlten Versagen gleichgekommen. Es hätte sich irgendwie falsch angefühlt. Doch ich komme mehr und mehr dahinter, was es bedeutet, entschleunigt unterwegs zu sein.

Noch vor ein paar Jahren hätte mich die letzte schlaflose Nacht voll aus der Bahn geworfen. Der ungeplante Abstecher in die Leipziger Innenstadt, um einen Ersatz für die Isomatte zu suchen, hätte mich richtig geärgert. In den zwei Stunden hätte ich auch 30 Kilometer Strecke machen können.

Doch so banal das klingt, für mich ist es eine große Erkenntnis: Das Gehetze bringt überhaupt nichts.

Niemanden interessiert es, wie viele Kilometer ich runterreiße. Niemanden interessiert es, ob ich 10 Minuten oder 3 Stunden Pause mache.  Nicht einmal mich sollte es interessieren.

In erster Linie bin ich ja unterwegs, um Freude zu haben. Außerdem auch in zweiter und dritter Linie. Diese Freude habe ich nun mal zur Zeit nicht, indem ich möglichst krass abliefere. Vor wem überhaupt? Vor meinem Strava-Profil? Ich bitte dich.

Die Qualität einer Radreise hat nichts mit den gefahrenen Kilometern oder den im Sattel verbrachten Stunden zu tun.

Ich grabe mich mit meinen Gedanken sogar noch tiefer.  All die Erkenntnisse haben mich zu einem gesonderten Text inspiriert. Doch hier geht es erstmal weiter auf meiner Wegstrecke.

Erzgebirge

… Mit all diesen Gedanken steige ich aus dem Zug.

Ganz anders als in der Ecke, in der ich in die Bahn eingestiegen bin, ist es hier. Während “da hinten” alles von Braunkohleabbau geprägt ist, sieht man hier überall die Relikte des Tagebaus.

Nach der letzten Nacht bin ich hundemüde. Darum mache ich mich gleich daran

einen Schlafplatz zu finden. Meine Route führt entlang des Mulderadwegs. Da wird ja wohl etwas zu finden sein.

Zu meiner Freude muss ich nicht lange suchen. Ein verlassenes Gebäude nach dem anderen. Lost Places würde man im Internet dazu sagen.

Auf dem Gelände eines stillgelegten Bergbaubetriebes. Ein vor sich hin rostender Kran, alte Loren auf Gleisen, die nirgends mehr hinführen und eine Wohnbaracke mit eingeworfenen Fenstern. Am Ende des Geländes finde ich einen überdachten Bereich, dessen Boden trocken und eben aussieht. Es bräuchte nur ein winziges bisschen Fantasie, um das Gruselpotential dieses Ortes zur Entfaltung zu bringen. Alle entsprechenden Gedanken schiebe ich zur Seite. Stattdessen konzentriere ich mich auf meine Abendroutine.

Auf meiner neuen Isomatte liegt es sich hervorragend. Wie bin ich froh, hier im Schlafsack zu liegen! Heute war es so mittel. Morgen wird bestimmt wieder gut. Mit einem Podcast auf Kopfhörern schirme ich meine Fantasie von den gruseligen Außengeräuschen ab.

Donnerstag

Wieder wache ich in der Nacht auf. Wieder weht der Wind Gewitterregen in mein Gesicht. Wieder ziehe ich um. Diesmal reichen nur ein paar Meter weiter von der offenen Seite der Überdachung weg. Wieder spanne ich mein Tarp zum Schutz über mich. Hoffentlich wird das kleine Rinnsal Regenwasser, das an mir vorbeiführt, nicht noch größer. Ich habe Glück. Mit meinem Platz habe ich es alles in allem gut getroffen. Dank des Gewitters kann ich mir außerdem sicher sein, dass heute niemand mehr vorbeikommt, um meine Leiche zu schänden. Ich finde schließlich doch noch zu meinem Schlaf.

Am nächsten Morgen verbringe ich so lange wie möglich im Schlafsack. Draußen ist es neblig und feucht. Was heißt hier draußen? Ich bin ja selbst draußen. Ich koche Kaffee, ohne den Schlafsack zu verlassen. Dann noch einen. Dann lasse ich mir vom Regenradar meinen Verdacht bestätigen, dass es die nächsten Stunden nicht aufklaren wird.

Also tu ich das, was jeder Radreisende tun muss. Rein in die Radhose und rauf auf den Sattel. Es ist irgendwie schön, durch die Nebellandschaft zu fahren. Der Radweg ist offensichtlich eine stillgelegte Bahntrasse. Spätestens beim Tunnel bin ich mir sicher. Nicht mehr weit, dann komme ich zur tschechischen Grenze. Auf Tschechien freue ich mich schon besonders.

Zum Frühstück gibt es heute nur Müsliriegel. Alles, was nach Gaststätte aussieht, hat offensichtlich schon vor Jahren geschlossen. Heute muss es also ohne gehen. Wenigstens macht mir in einem Ort namens Wildenthal die Wirtin einer Après-Ski-Hütte einen Kaffee.

Die letzten Meter bis zur Grenze, welche natürlich auf dem Sattel liegt, ziehen sich. Ich zähle innerlich die Kurbelumdrehungen. Schwitzend komme ich oben an und mache mein Foto am Grenzschild. Das wäre schon mal geschafft.

Gleich hinter der Grenze brennt ein qualmendes Feuer an einem gemütlichen Bauwagen. Ein Wandererkiosk mitten in den vernebelten Bergen. Was für ein Glück. Ich bin plötzlich so dermaßen froh, hier zu sein. Ich bestelle eine Bratwurst und das erste Bier auf meiner Tour. Willkommen in Tschechien.

Während der Abfahrt ins Tal klappern mir buchstäblich die Zähne, so kalt ist es geworden. Am Anfang meiner Tour bin ich noch beinahe geschmolzen und jetzt sehne ich mich nach meiner warmen Daunenjacke und langen Handschuhen. Krass, wie weit weg der Streckenabschnitt im staubtrockenen Brandenburg wirkt. Dabei ist das gerade mal vorgestern gewesen.

Nejdek. der erste Ort in Tschechien. Gleich mal ins Wirtshaus. Böhmische Küche genießen. Nachdem heute Donnerstag ist. Mir wird mit Blick auf die Karte klar, dass ich nicht bis München fahren werde. Viel zu weit bis dahin. Vielmehr stehen mir die Möglichkeiten zum fröhlichen Rad-Vagabundieren offen. Ich könnte mich in Richtung deutscher Grenze bewegen und dann den ersten Ort in Deutschland mit Zugverbindung ansteuern. Ich könnte allerdings auch meinen Streckenabschnitt in Tschechien erweitern und noch weiter in Richtung Süden. Ganz klar ist, ich will nicht mehr hetzen. Hier ist es viel zu schön, um nicht alles ganz genau zu betrachten.

Um mich nicht komplett dem Müßiggang hinzugeben und um mich noch für ein paar Kilometer zu verpflichten, buche ich ein günstiges Hotelzimmer, zu dem ich noch mindestens drei Stunden treten muss. Gute Entscheidung. Mit einem konkreten Ziel lässt sich die Pracht der Landschaft noch viel besser genießen. Und die Wege. Und die Orte. Wirklich toll hier. Ein bisschen wie aus einer anderen Zeit. Die spätsommerliche Sonne lässt sich auch wieder blicken. Es scheint alles perfekt.

Bilder machen. Weitertreten. Die Zeit vergeht und so schmilzt auch der Nachmittag dahin. In der Pension freut sich mein Körper wie selten über das fließende Wasser von oben.

Auch meiner Kleidung spendiere ich eine Wäsche. Besonders meine regenwasserumspülten Socken entfalten eine enorme Färbekraft gegenüber dem Wasser im Waschbecken. Wo kommt denn bitte der ganze Dreck her?

Abendessen und danach bald ins Bett. Ich liebe es ja sehr im Wald zu schlafen, doch nachts mal nicht von allerlei Geräuschen oder Gewitter am Einschlafen gehindert zu werden, hat auch was für sich.

Freitag

Ich bin mittlerweile komplett im Entspannungsmodus angekommen. Ohne Hast genieße ich das Frühstücksbuffet. Meine Sachen pack ich ebenfalls ganz in Ruhe auf mein Rad.

So geht das also. Dieses Genussradeln. Mein Ziel für heute steht mittlerweile auch fest. Ich fahre nach Pilsen. Von dort fährt auch ein Zug nach München.

Mir scheint es ein guter Abschluss zu werden. Statt aus „Berlin – Bayern by Bike“ wird eben „Berlin – Böhmen by Bike“.

Meinem Ziel reite ich ganz in Ruhe entgegen. Wo es mir gefällt, bleibe ich stehen. Wo es gut rollt, rolle ich. Genauso hatte ich es mir gewünscht. Ich habe eben ein paar Tage gebraucht, um endgültig in diesem Modus anzukommen.

Die Gegend begeistert mich. Auch die Wege sind alles andere als eintönig. Ich durchfahre kleine Wälder, Felder, Weiden und verschlafene Orte. Zwischendurch wird es untergrundtechnisch sogar richtig anspruchsvoll. So gut wie nie muss ich mich über den Autoverkehr ärgern.

An einem Parkplatz durchlebe ich eine Begegnung, die ich in einem anderen Text verarbeiten muss. Nur so viel möchte ich schon verraten. Ab sofort esse ich keine Tiere mehr. Aber dazu ein anderes Mal.

Nach und nach komme ich der Stadt Pilsen näher. Ich checke online den Fahrplan und stelle fest, dass es entspannt möglich sein wird, den letzten Zug nach München zu erwischen. Also verwerfe ich die Überlegung, für heute noch einen gemütlichen Schlafplatz im Freien zu suchen und trete stattdessen nochmal in die Pedale. Am kleinen Supermarkt befülle ich mich noch einmal mit Eis und Zuckerwasser, um auf die letzten Meter nochmal eine Schippe draufzulegen. Zuhause, ich komme.

Richtig zufrieden, komme ich in Pilsen an. Ich suche mir noch etwas zu essen und mache mich auf den Weg zum Bahnhof. Am Schalter löse ich ein lächerlich günstiges Ticket. Als ich mein Rad und meinen müden Körper in den Zug verladen habe, passiert der Rest von ganz alleine. Was für eine tolle Tour! Wenn ich zu Hause bin, behalte ich mir meine Entspannung bei.

Mal sehen, wie lange ich das schaffe.

Hard facts

5 Gedanken zu „BB – Berlin Böhmen by bike 2/2

  1. Was für ein schöner Bericht von einer schönen Tour!
    Du hast recht, oft hetzen wir beim Reisen, aber nur ohne diesen Druck ist es wohl eine richtige Reise.
    Danke!
    Gert

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